Rundbrief von Galsan Tschinag | Open Hearts for Mongolia

Rundbrief von Galsan Tschinag

O Ihr Lieben,
seid alle erst einmal über Eurasiens Fernen hin
und den Regeln des Herrn Corona zum Trotz
fest-feste gedrückt und
innig wonnig beschnuppert!

Der allmorgendliche Raureif gehört in vielen Teilen mongolischer Lande schon seit Tagen und Wochen zum Normalbild unseres Lebens. Und zwischendurch hat es sogar etliche Male auch geschneit. Es ist also längst tiefster Herbst in diesem immer noch riesigen Restreich mit dem streng interkontinentalen Klima wie seit Urzeiten. Zumindest kommt es mir so vor, wobei man wissen müsste, dass meine Erinnerungen reichliche sieben Jahrzehnte in sich einschließen. Die Frage ist natürlich, wie dick die Zeitflöze dahinter seien. In der ersten Hälfte dieser Zeitmasse hätte ich wohl, ohne zu stocken, gesagt: O ja, das ist viel Zeit! Aber von meinem heutigen Standpunkt aus betrachtet, werde ich schon zögern, ehe ich darauf antworte.   Erdgeschichtlich gesehen, gleicht sie natürlich der Lebensdauer von Eintagsfliegen, aber gemessen an der Lebenszeit eines Menschen doch schon viel, muss ich zugeben. 

Dieser Herbst, der an mir webt und schabt, hat aber etwas, das ihn von allen anderen seiner Vorgänger schreiend deutlich unterscheidet: Es ist heuer alles, alles sehr nass – ganze Wochen lang hat es fast jeden Tag geregnet, und dabei hat die Nässe, die von oben kam, jener, die man bislang kannte, überhaupt nicht geglichen. Den Sprühregen, zu dem wir D’walar (Tuwa), Ak Dshaaschk’n sagen, – auf Kirgisisch Ak Dshaan, gedacht an die berühmte Erzählung von Tschingis Aitmatow,  diesen zahmen, leisen, linden, lieben Regen, unter welchem die ganze Luft sehr oft milchigweiß ausschaut, gibt es schon seit langem nicht mehr. Aber auch den anderen Regen, bestehend aus gröberen Tropfen und treffend Boden und Haut heftiger, mit dem man zuletzt gelebt hat, gab es diesen Sommer einfach nicht mehr; die letzten zwei, drei Monate hindurch hat es immer wieder gewittert mit Blitz, Donner und Wassersturz: geschüttet und gegossen, sodass der Boden nach nur wenigen Minuten unter Wasser stand, folglich es zu unzähligen kleinen und großen Hochwassern kam, welche die Wege und Straßen unpassierbar machten.  Also hat die Nässe, rettend vor jener gefürchteten chronischen Dürre, gleichzeitig aber verheerende Schäden angerichtet. Ja, der Himmel hat, wie seit Urzeiten eben, gegeben und genommen. Und vor diesem gruseligen Kraftspiel der Natur haben wir Menschen uns natürlich auch diesmal als völlig machtlos erwiesen.  

Und dann, das wunde Thema, das mittlerweile Länder und Kontinente wieder einmal zu entzweien droht: das Coronavirus. Sosehr die Mongolei bis auf den heutigen Tag es einerseits auch geschafft, davon unberührt zu bleiben, sind jedoch die mittelbaren Schäden davon unermesslich. (Bis zu diesem Augenblick vermögen die Statistiken hinter den Namen unseres Landes 311 Fälle aufzuhängen, wobei diese zu 100% vom Ausland hereingeschleppt worden sind.) Aber das Syndrom, eingetrieben in die Hirne der Bevölkerung, hat längst-längst eine total betäubende Wirkung. Ja, gerade da haben die Machthaber, die zu jeder Zeit die Angst aller Unterdrückten als ihre mächtigste Waffe zu gebrauchen gewusst, auch diesmal gewaltig davon profitiert: Haben die Parlamentswahlen abermals haushoch gewonnen und glühen und flammen jetzt um die Gemüter der verängstigten und verwirrten Volksmasse, um die Ergebnisse der Kommunalwahlen ebenso zu eigenem Nutzen zu beeinflussen. 

Doch scheinen die Bedingungen in der Außenwelt mittlerweile für unsere Obrigkeit, nicht ganz so günstig auszusehen wie vor zwei Monaten. Denn die so ungeduldigen wie auch unfriedlichen Europäer sind wohl längst quarantänemüde geworden. Es gibt Protestdemonstrationen, die wohl von Woche zu Woche immer mehr Menschengruppen erfassen und diese zum Überdenken und Handeln zwingen. Und die Wellen jener Ausschreitungen sind bis in die Steppenmongolei herüber geschwappt. Sodass auch ich denke, nun, was denn, wenn so viele Menschen bereit sind, die Ansteckung in Kauf zu nehmen, dann, Himmel, warum auch nicht – die sollen doch von ihrer selbstgebastelten Abgöttin Freiheit eben freien Gebrauch machen und es auf eigene Rechnung riskieren – lieber in Bars und Kinos zu gehen und sich von Anderen gegen Bezahlung  amüsieren zu lassen als unter Quarantäne zuhause gebührenfrei zu hocken und, auf eine Nachricht zu warten, wann denn der letzte Herd für das Virus endlich ausgelöscht sein würde!

Dabei nun bin ich auf meine eigene kleine Erleuchtung gekommen: Vielleicht wird sich das Virus nie-nie-nie völlig austilgen lassen, und statt dessen werden weitere, ganz neue Viren auftauchen und anfangen, an unserem Leben und Sterben zu weben und zu stricken – und was dann?

Und schließlich bin ich von den Ausscheidungen der eigenen Grübelei zu dem Schluss gezwungen worden: Lernen, mit dem Corona zu leben! So wie die Menschheit seit Jahr und Tag mit solchen teuflischen Gefahren eben zu leben gelernt und ihre Existenz bis auf den heutigen Tag fortgesetzt hat, wie mit Krebs, Kernwaffen und Aids!

Wohl sind auch andere Menschen, so auch welche im Führungsstab unserer Staatsmafia zu dieser Einsicht gelangt: Vor einem oder zwei Tagen hat es mit einem Mal geheißen: Die Quarantäne dauert erst einmal nur bis zum 20. d. M. und dann, ab 21.9.2020 werden wir leben und arbeiten müssen/dürfen wie früher! Wobei aber die Staatsgrenzen weiterhin geschlossen bleiben werden! Also sollen/müssen wir in vielem zum alten Takt unseres gewohnten Alltagslebens zurückkehren. Womit für mich und meine Nächsten das große Fragezeichen also weiterhin bestehen bleibt: Wir dürfen weder selber ausreisen noch Gäste aus anderen Teilen der Welt empfangen.

Das ist nun der augenblickliche Stand für mich und Galtai , der erst vor drei Tagen vom Altai zurückgekommen ist. Seine sommerliche Mission dort ist erst einmal erfolgreich zu Ende gegangen. Er kam mit seinem Käse «Tuwa Yaki», den er über den Sommer hat pressen können, im Vorderteil der Ladefläche seines Kleintransporters und im hinteren mit einem quicklebendigen, gelten und darum auch kugelig wirkenden, ausgewachsenen Rind. O diese Rückreise muss nicht ganz ohne, und dazu  auch hochabenteuerlich gewesen sein, nachdem er bei der Hinreise von der Mittelmongolei in den Hohen Altai Zuchttiere gebracht hatte: 2 junge Jakbullen, 31 Ziegenböcke und 10 Mutterziegen. Dazu müsste unbedingt erwähnt werden, dass wir vor drei Jahren eine 30-köpfige Herde von Eliteschafen aus dem Nordwesten des Landes zu uns in den Hohen Altai hinübergeholt haben. Und die Tiere haben sich inzwischen als soliden Kern einer künftigen, hochproduktiven Schafrasse erwiesen. 

O wie haben wir uns über seine glückliche Rückkehr gewaltig gefreut! Ich stand – müsste eigentlich sagen: stund – da stumm, ein stolzer Vater! Und seine Frau und Kinder, diese freuten sich natürlich nicht weniger: Ein tüchtiger Familienvater, der sogar nicht vergessen hat, mit einem so gesunden Tier – noch mehr öko kann da kein Tierwesen sein! – an die Reserve als Winterfleisch zu denken!

Vorgestern haben wir uns nicht nur als Vater und Sohn, sondern auch als bisheriger und künftiger Häuptling unseres kleinen Volksstammes getroffen und eine lange, wichtige Unterhaltung miteinander geführt. Der Sohn ist prallvoll von Ideen und glüht, sie alle in die Tat umzusetzen. Ihm gegenüber sitzend und auf ihn schauend, dachte ich wehmütig-versonnen: So war ich wohl in meinen jüngeren Jahren auch, also habe ich einen tollen Nachfolger! Und bei der nächsten würdigen Gelegenheit werde ich ihm die ganze Bürde samt den wenigen materiellen Gegenständen in Gegenwart von einer großen Abordnung unseres Volkes übertragen und selber offiziell zurücktreten, um meine verbliebene Zeit auf Gottes Erde in Ruhe und nach eigenem Belieben zu verbringen. Die organisatorischen und finanziellen Seiten habe ich in den letzten Monaten auch geregelt.

Nun mein Wunsch so an mein eigenes Volk wie auch an Euch, Ihr lieben Freunde und Verbündete weltweit, wird sein: ihm mit Rat und Tat beizustehen, so wie auch ich die Unterstützung so vieler lieber Menschen in Ost und West all die Jahre meiner Anstrengungen um die Weitererhaltung der D’walar als ethnische Minderheit in dieser bilderbuchmäßig nationalistisch aufgeladenen Mongolei habe genießen dürfen. 

Mit berggroßem Dank und ozeantiefer Liebe an alle, jede, jeden:

der NochHäupting und erst recht Däumling

G.T.

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